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Phantastische Geschichten

Der Wurm aus dem Brunnen

Der Reiter sah auf das Dorf hinab. Eine handvoll Lehmhütten und ein paar kleine Höfe säumten eine der weniger bedeutenden Handelsstraßen des Reiches. Ein abgelegener Ort, doch Gerüchte über schreckliche Ereignisse hatten die Pfalz erreicht, und er hatte sich auf den Weg gemacht, die Wahrheit hinter den Schauermärchen zu ergründen.

In der sinkenden Sonne warfen der Reiter und seine Pferde lange Schatten hinter sich, als sie das Gasthaus in der Mitte des Dorfes erreichten. Einige Atemzüge lang saß der Reisende mit geschlossenen Augen auf seinem Pferd. Er hatte die Reise nicht umsonst gemacht. Die Angst der Menschen war wie ein erstickender Rauch, sie drang aus den Fenstern der Hütten und erfüllte die Straßen, das ganze Dorf wurde von ihr gewürgt. Und da war noch etwas, es hatte nichts mit den Menschen zu tun, es war nicht im Dorf, aber es war nah, sehr nah.

Der Reiter öffnete seine Augen und sah auf den Jungen hinab, der ihn neugierig ansah. Sofort senkte der Bengel furchtsam den Blick.

"Bist du der Stallbursche?"

Ein Nicken war die Antwort.

"Dann kümmere dich um meine Pferde und sorge dafür, dass mein Gepäck auf mein Zimmer gebracht wird. Ihr habt doch einzelne Zimmer für Gäste?"

"Ja, Herr. Sofort, Herr"

Er stieg von seinem Reittier und nahm ein schmales Bündel vom Sattel des Packpferdes, dann betrat er den Gasthof.

Der Schankraum des Gasthofes war fast leer, nur ein alter Mann saß am Feuer des Herdes und zwei junge Männer, der Kleidung nach Händler, tranken in einer Ecke des Raumes.

Der Wirt kam in den Raum, kaum dass sich die Tür geschlossen hatte. Er betrachtete seinen neuen Gast. Der Fremde war war nicht besonders groß, aber er besaß die breiten Schultern eines Mannes, der von klein auf den Umgang mit den Waffen trainiert hatte. Seine Kleidung war abgewetzt und staubig von der Reise, aber das Gewebe des dreifarbigen Wamses und das Leder der Reithosen waren von wesentlicher besserer Qualität, als es sich ein Bauer hätte leisten können. Das Schwert an seiner Hüfte steckte in einer schmucklosen, abgenutzten Scheide, aber es reichte aus, ihn als einen Adligen zu identifizieren. Der Wirt verneigte sich tief.

"Mein Herr, ich bin geehrt durch Euren Besuch. Wie kann ich Euch dienen?"

Der Fremde sah sich im Raum um, als hätte er den Wirt nicht gesehen.

"Ich brauch ein Zimmer", sagte er schließlich. "Sieh zu, dass dein Stallbursche meine Pferde gut versorgt. Und bringt mir etwas zu Essen."

"Sehr wohl der Herr, ich lasse Euer Zimmer herrichten. Und zu Essen..." Er deutete auf den rußigen Kessel über dem Feuer. "Wir haben Gerstensuppe, Herr. Aber wenn ihr wollt, kann ich für heute Abend einen Braten bereiten." Das Fleisch des halbgemästeten Schweines würde ihm im Winter fehlen, aber besser im Winter hungern als einen Edlen zu verärgern.

Der Gast sah den Wirt zum ersten mal direkt an.

"Die Suppe genügt. Aber bringt mir etwas zum Beißen dazu, eine Räucherwurst oder ein Stück Schinken."

"Sehr wohl der Herr, ich eile."

Der Schulze des Dorfes fand den Gast wenig später am Herd der Schankstube, eine leere Schüssel neben seinem Stuhl und einen Humpen mit Bier in der Hand.

"Edler Herr, ich erlaube mir, Euch in Griffswald begrüßen zu dürfen. Mein Name ist Eckehard, ich bin der Schulze des Dorfes."

Der Besucher sah ihn über seinen Humpen hinweg an. "Sei gegrüßt, Eckehard."

Nervös zog der Schulze einen Hocker heran und setzte sich neben den Fremden.

"Hattet ihr eine weite Reise? Wenn man fragen darf?"

Der Fremde zuckte mit den Schultern. "Ich war schon länger unterwegs. Ich bin vor drei Tagen von der Pfalz aufgebrochen."

"Von der Pfalz seit ihr? Gehört ihr vielleich zum Hof des Kaisers?"

Das verächtliche Schnauben auf diese Frage hätte sich ein Bauer nicht erlauben dürfen. "Seit fünf Jahren hat keiner mehr den Kaiser in seinen Pfalzen gesehen. Aber gelegentlich hört man von seinen Siegen, irgendwo im Süden. Von verlorenen Schlachten hört man auch, aber da wird leiser gesprochen."

"Und wie steht es mit dem Landgrafen? Habt Ihr ihn gesehen oder gar gesprochen, in letzter Zeit?"

"Ich habe ihn sicherlich oft genug gesehen, und gesprochen habe ich ihn auch einige male, aber ich glaube nicht, dass er mir zugehört hat."

Der Schulz zog vor, das nicht zu kommentieren.

"Und habt ihr vielleicht gehört, ob ihn Kunde von Griffswald erreicht hat? Ob er erfahren hat, von unserem... Unglück?"

Nun war der Schulze endlich dort angekommen, wo er hinwollte.

Der Fremde setzte sich auf und winkte dem Wirt, ihm noch ein Bier zu bringen.

"In der Tat haben die wildesten Geschichten aus diesem Landstrich den Hof des Landgrafen erreicht. In der Tat bin ich hier, um den Schauermärchen auf den Grund zu gehen, die Händler und fahrendes Volk von den Bergen bis zum Meer verbreiten."

Der Schulze und der Wirt tauschten eine erleichterten Blick aus.

"Dann hat der Landgraf euch geschickt? Endlich!"

Der Fremde lächelte. "Geschickt hat er mich gerade nicht, aber er hat mir seine Erlaubnis erteilt, mich um die Sache zu kümmern. Seht ihr, ich habe ein gewisses Interesse an Ungeheuern und dergleichen."

"Interesse an Ungeheuern? Wie soll man das verstehen?"

Die Hand des Besuchers legte sich vielsagend um seinen Schwertgriff.

Ein meckerndes Lachen ließ den Schulzen zusammenzucken. Der Alte, der mit seinem leeren Bierkrug am Feuer gesessen hatte, sah mit einem zahnlosen Grinsen herüber.

"Ein Schwert, mit einem Schwert will er dem alten Leichenwurm zu Leibe rücken!"

"Sei still, Ulerick! Deine wirren Geschichten will keiner hören!"

"Nein, die wirren Geschichten vom alten Ulerick will keiner hören, es wollte ihm auch keiner zuhören, als sie den Brunnen auf dem Geisteracker gegraben haben. Aber jetzt seht ihr, was ihr davon habt!"

"Geb ihm ein Bier, damit er Ruhe gibt!", wies der Schulze den Wirt an, dann wandte er sich wieder dem Fremden zu.

"Verzeiht, Herr. Er redet wirr. Aber um was es wirklich geht, was wirklich geschehen ist. Nun, es begann im letzten Frühjahr..."

"Als ihr den neuen Brunnen im Geisteracker gegraben habt!"

"Wirst du wohl still sein!

Also. Es begann im letzten Frühjahr, als einer von den Hirten erzählt hat, dass ihm was hinterhergeschlichen sei, als er des Abends mit seinen Schweinen aus dem Wald gekommen ist. Er hat's nicht wirklich gesehen, sagt er, nur so einen Schatten aus den Augenwinkeln, aber mächtig Angst hat er gehabt, und das ist das seltsamste, denn eigentlich hat der vor nichts Angst. Ist viel zu blöd dazu.

Wirklich geglaubt hat ihm damals keiner, außer dem altem Ulerick."

Ein gluckerndes Lachen erklang hinter dem frisch gefüllten Bierkrug des Alten.

"Aber als dann eine Woche später der Schafhirte verschwunden ist, da fingen wir an. uns Gedanken zu machen. Es hat schon lange keine Bären und Wölfe in der Gegend hier gegeben, und wenn sich auf der Straße sicher so manches Gesindel herumtreibt, dann hat's doch zu unser aller Lebzeit keinen Totschlag gegeben. Aber was sollten wir wissen, was den Hirten geholt hat?

Als dann der alte Beck, als er im Sommer nachts von Angerode rübergekommen ist, nicht zuhause ankam, da war klar, dass was nicht stimmt. Wir haben gefunden, wo es ihn erwischt hat. Sein Packen hat da noch gelegen, und sein Stock. Der Stock war entzwei gebrochen, dabei wars ein dicker Eichenknüppel. Und da waren Spuren..."

Der Schulze unterbrach seine Erzählung, um die Dorfleute, die sich durch die Tür des Schankraumes drückten, finster anzustarren. Scheinbar hatte sich die Anwesenheit des Edlen herumgesprochen und nun füllte sich die Schankstube mit Bauern, die vergeblich versuchten, unnaufällig zu wirken, während sie lauschten.

"Was waren das für Spuren?", hakte der Fremde nach. "Spuren von Klauen?"

"Nein, Herr. Es waren keine Spuren von Klauen, noch von Tatzen noch von Hufen. Das Gras war niedergedrückt, wie als wenn was großes, schweres drübergekrochen wär. Da wo wir den Packen und den Stock gefunden haben, da war das Gras auf großen Fläche plattgedrückt, aber zu der Stelle hin und wieder zurück hat es nur eine lange schmale Spur hinterlassen."

"Hin und zurück? Woher und wohin?"

Der Schulze warf einen finsteren Blick zum altem Ulerick herüber, der sich dadurch nicht von einem hämischen Lachen abhalten ließ, als er fortfuhr.

"Zum Geisteracker, Herr. Zum Brunnen, den wir letztes Frühjar gegraben haben."

"Erzähl ihm vom Gestank!", rief einer der Zuhörer.

Der Schulze nickte. "Ja, der Gestank war jedesmal da, wenn das Ding einen geholt hat. Ihr müsst wissen, das Gras war nicht nur plattgewalzt, es war auch beschmiert mit einem klebrigen grauen Schlamm, eine ganz dünne Schicht, und das Zeug hat gestunken wie ... wie eine alte Leiche!"

"Und kein Viech", ertönte die hilfreiche Stimme aus dem Publikum, "hat sich an die Plätze rangetraut, nicht die Hunde und nicht die Schweine. Ich glaub, nicht einmal die Füchse haben sich da blicken lassen, bevor es nicht geregnet hat."

Der Fremde dachte nach. "Ist das Gras wieder normal gewachsen, hinterher?"

"Ja Herr, es war nur plattgedrückt, und nach einer Weile haben sich die Halme wieder aufgerichtet. Man sieht nicht einmal mehr die Spuren, wo das Monster dieses Frühjahr ins Dorf gekommen ist."

"Den nächsten Mann hat es im Dorf geholt?", fragte der Fremde interessiert.

"Kein Mann", erwiederte der Schulze, "es war ein Mädchen, das es aus seinem Schlafzimmer heraus geholt hat. Und da waren noch drei davor."

"Erzähl der Reihe nach!"

"Die nächsten, die es geholt hat, waren ein junges Pärchen, das sich für ein heimliches Techtelmechtel aus dem Dorf gestohlen hat. Die Eltern wollte die beiden nicht heiraten lassen, da haben sie sich halt immer wieder heimlich getroffen. Und beim letzten mal müssen sie dem Ding direkt in die Fänge gelaufen sein."

"Ich glaube immer noch, die beiden sind zusammen auf und davon!", ertönte eine höhnische Stimme, aus dem Hintergrund.

Der Schulze ließ sich nicht stören.

"Der nächste war ein Händler, der noch in der Nacht unterwegs war. Seine Ochsen sind davongekommen, sind mit dem Wagen hier durchs Dorf geprescht, als wären die Wölfe hinter ihnen her, haben geschrien wie irre. Keiner hat den Wagen oder die Ochsen jemals wiedergesehen. Als wir am nächsten morgen der Straße in die andere Richtung gefolgt sind, haben wir wieder die Spuren gefunden, und den Gestank. Und dann wieder dieses Frühjahr..." Der Fremde unterbrach ihn.

"Im Winter hat es sich nicht gezeigt?"

"Nein, Herr. Den Winter über hatten wir Ruhe. Vielleicht schläft es im Winter, wie eine Schlange.

Im Frühjahr jedenfalls kam es wieder. Diesmal ist es bis ins Dorf gekommen, das heißt, bis an die Hütte am Rand, wo die Ina alleine gelebt hat. Es hat keiner was gehört, aber das Vieh scheint sie aus dem Bett geholt zu haben. Die Wand von der Hütte hat es eingedrückt, um reinzukommen, und alles innen und außen mit seinem grauen Schlamm verschmiert. Wir haben die ganze Hütte niedergebrannt, am nächsten Tag."

"Und wie lange ist das jetzt her?"

"Einen Monat, Herr."

"Und es hat immer nur Menschen geholt, nie Tiere?"

"Nein Herr, von unseren Viechern ist nie eins abhanden gekommen."

"Und die Leichen der Leute hat man nie gefunden?"

"Nein Herr, es hat die Leute immer mitgenommen."

Der Fremde starrte einige Atemzüge gedankenverloren ins Feuer.

"Ich möchte den Brunnen sehen!", verkündete er schließlich.

Der Schulze blickte betreten von den Fenstern, die während seiner Erzählung begonnen hatten, sich zu verdunkeln, zu seinen Zehenspitzen. Die übrigen Dorfbewohner taten es ihm gleich, nur der alte Ulerick ließ sein meckerndes Lachen hören.

"Na dann kommt mit, wackerer Krieger", sagte er und stand von seinem Schemel auf. "Ich werd euch zeigen, wo das ganze Elend seinen Anfang nahm."

Es war dem Schulze anzusehen, dass er den Fremden nicht gerne in die Obhut Ulericks entließ, aber nichts konnte ihn dazu bringen, bei Sonnenuntergang zum verfluchten Brunnen zu gehen.

"Du bist ein mutiger Mann, Ulerick", sagte der Fremde zu seinem Führer, als sie einer schlammigen Gasse nach Nordwesten folgten.

Der Alte zuckte mit den Schultern.

"Ich bin ein alter Mann. Ich hab' in meinem Leben schon viele sterben sehen, und war manchmal selbst nahe daran, mein Leben zu lassen. Der Tod schreckt mich nicht mehr."

"Du scheinst ein wenig mehr über die Sache zu wissen, als der Schulze mir erzählt hat", stellte der fremde fest.

"Es gibt da ein paar Sachen, die der Schulze nicht recht glauben mag, und ein paar andere, die er lieber nicht erzählt haben will", antwortete Ulerick grinsend.

"Kümmert es dich, was der Schulze erzählt haben will und was nicht?"

Der Alte schüttelte den Kopf.

"Nicht ein bisschen. Der Schulze ist ein Dummkopf und wenn er letztes Jahr auf mich gehört hätte, täten die ganzen armen Leute noch leben." Sein Grinsen war einem grimmigen Gesichtsausdruck gewichen.

"Ihr müsst wissen, dass der Schulze nicht von hier ist. Er ist schon hier geboren, aber seine Familie ist erst zur Zeit von meinem Vater hier nach Griffswald gekommen. Damals hat der Landgraf die Leute umgesiedelt, als auf der Straße hier immer mehr Verkehr unterwegs war, mit dem Erz, dass sie in den Bergen gefunden hatten und so. Es kam schließlich so, dass es hier mehr Fremde als Alteingesessene gab, und irgendwann hatten die neuen Familien das meiste Land und die Pferde und sie hatten das Sagen. Nicht, dass es da jemals Krach gegeben hätte, und von den jungen Leuten haben die meisten keine Ahnung mehr, welches die alten Familien und welches die neuen sind, aber wir von den Alteingesessenen wissen noch ein paar Geschichten zu erzählen, die uns die Neuen nie so recht geglaubt haben."

Sie hatten die letzten der besseren Höfe erreicht und suchten ihren Weg zwischen den Lehmhütten am Dorfrand.

"Ihr müsst wissen", fuhr Ulerick fort, "dass wir nicht die ersten waren, die hier ihre Häuser gebaut hatten. Mein Großvater hat mir noch erzählt, wie sie damals die alten Heiden vertrieben haben. Da war er natürlich nicht dabei gewesen, das muss schon hundert Jahre vor ihm gewesen sein, aber er hat die Geschichten erzählt bekommen, wie er sie mir erzählt hat.

Keine schöne Geschichte ist das, viele sind gestorben unter den Äxten und den Zaubern der alten Heiden, bevor wir ihre Häuser verbrannt haben und unsere auf der Asche gebaut haben. Aber es gab nicht nur das Dorf, sondern auch einen Tempel hatten die Heiden hier gebaut, wo sie ein grausiges Ungeheuer angebetet und Jungfrauen zum Fraß vorgeworfen haben. Den Tempel haben wir auch verbrannt und das Ungeheuer wurd' unter den Trümmern begraben!

Das Geisterfeld haben wir den Platz immer genannt. Ist ein unheimlicher Platz, wo die ganzen Steine vom Tempel in der Erde vergraben sind. Es heißt, dass da immer mal wieder die Geister der alten Heidenpriester auftauchen und versuchen, das Ungeheuer auszugraben. Aber da hätten sie sich nicht bemühen brauchen, das haben wir jetzt ja für sie gemacht."

Mit seinen letzten Worten deutete Ulerick auf eine magere Wiese, ein paar hundert Schritte vom Dorf entfernt, in deren Mitte ein Brunnen stand.

Trotz seiner Beteuerung, den Tod nicht zu fürchten, blieb Ulerick ein gutes Stück vom Brunnen entfernt stehen und sah zu, wie der Fremde mit gesenktem Kopf einen weiten Kreis um den Brunnen herumlief. Ulericks Vorfahren hatten ganze Arbeit geleistet. Die schwarzen Gesteinsbrocken, die auf der ganzen Wiese aus dem Boden ragten, waren derart gründlich zerschlagen und verteilt, dass es unmöglich war, zu erkenne, was für ein Bannkreis hier einmal gestanden hatte. Ein Tempel war es natürlich nicht gewesen, das alte Volk hatte hier im Norden niemals Tempel gebaut.

Die Hand des Fremden lag am Schwertgriff, als er sich dem Brunnen zuwandte, der mit einem Deckel aus dicken Eichenbohlen verschlossen war.

"Wie seit ihr überhaupt auf die Idee gekommen, einen Brunnen so weit vom Dorf zu graben?"

Ulerick verzog das Gesicht. "Meine Idee war das bestimmt nicht. Das war so ein Vagabund, der letztes Frühjahr hier durchgekommen ist. Ein Wünschelrutengänger hat er behauptet zu sein und hat es sich fürstlich bezahlen lassen, dass er für das Dorf den besten Platz für einen Brunnen findet. Ausgerechnet hier hat sein komischer Stecken ausgeschlagen, mitten im Geisterfeld!

Naja, Wasser haben sie hier auch gefunden, kaum dass sie tief in die Erde gegraben hatten, und ausgelacht haben sie mich, weil ich ihnen gesagt hab', dass der Brunnen Unglück übers Dorf bringen wird." Der Alte sah zum Dorf herüber. "Ich wünschte, sie würden mich immer noch auslachen!"

Er zuckte zusammen, als der Fremde plötzlich neben ihm stand.

"Gehen wir zurück ins Gasthaus." Der Krieger wirkte entschlossten und fast ein wenig fröhlich. 'Er freut sich auf den Kampf', dachte Ulerick. 'Der ist nicht ganz richtig im Kopf!'

Aber wenn er das Dorf wirklich von diesem Fluch befreien konnte, dann war es Ulerick egal, wie verrückt der Mann war.

"Wie war das Wasser", fragte der Fremde auf dem Weg ins Dorf, "das ihr aus dem Brunnen geschöpft habt?"

"Ich habe es nicht getrunken, aber es soll gut und klar gewesen sein, haben die Leute behauptet. Nachdem der Wurm das erste mal gesehen worden ist, hat sein Geruch über dem Brunnen gelegen, aber das Wasser war wohl immer noch gut. Mittlerweile holt natürlich keiner mehr Wasser von da."

Im Gasthof schien sich mittlerweile jeder erwachsene Mann des Dorfes eingefunden zu haben. Die Kinder und einige der Frauen trieben sich auf der Straße herum. Man starrte den Fremden voll furchtsamer Erwartung an, als er seinen Weg zum Herd suchte, wo der Schulze auf ihn wartete.

Der Fremde ließ sich ein Bier bringen, bevor er zu der versammelten Menge sprach:

"Ich werde mich eures Problems annehmen. Wenn das Ungeheuer das nächste mal aus dem Brunnen steigt, werde ich es mit meinem Schwert empfangen. Während ich darauf warte, werdet ihr für mein Wohlergehen sorgen, etwas anständiges zu Essen, Futter für mein Pferd und Feuerholz. Mehr Bezahlung verlange ich nicht."

Das erleichterte Seufzen des Schulzen, dem in der Zwischenzeit eingefallen war, dass sich der Krieger seine Dienste vielleicht in Gold bezahlen lassen wollte, ging im Jubel der Menge unter.

"Aber wozu braucht Ihr Feuerholz?", verschaffte sich der Wirt über den Lärm hinweg gehör.

"Um mich zu wärmen, während ich vor dem Brunnen wache halte", entgegnete der Fremde.

"Was dachtest du denn, wo ich dem Ungeheuer auflauern wollte?"

Noch in dieser Nacht ließ er sich auf dem Geisterfeld nieder. Keiner der Dorfbewohner traute sich, ihn während seiner Wache aufzusuchen, nur hin und wieder lief einer zum Rand des Dorfes um nach dem schwachen Lichtschein seines Feuers zu sehen. Am morgen kehrte er in den Gasthof zurück um einen guten Teil des Tages zu verschlafen.

Nacht für Nacht glomm der schwache Schein seines Feuers vom Geisterfeld herüber, und jeden Tag kam er zum Schlafen und Essen in den Gasthof. Die Dankbarkeit der Dorfbewohner war ungebrochen, doch ein wenig unheimlich wurde ihnen der Fremde mit den Tagen schon. Es war zu erwarten, dass sich ein Edler nicht mit einfachen Leuten wie ihnen gemein machte, aber nicht einmal der Wirt des Gasthofes bekam etwas anderes als knappe Anweisungen von ihm zu hören, und der finstere Blick, den der Schulze geerntet hatte, als er sich am ersten morgen nach dem Befinden des Fremden erkundigt hatte, ließ ihn auf weitere Fragen verzichten.

Nicht einmal seinen Namen hatte der Krieger verraten.

Zum siebten mal saß der Krieger auf dem Geisterfeld. Die Flammen seines Lagerfeuers tauchten die Wiese in unstetes Licht, in dem die verstreuten Steine unruhig zu wandern schienen. Wie jede Nacht saß der Krieger reglos vor seinem Feuer, die halb geschlossenen Augen auf den Brunnen gerichtet. Nur wenige Männer besaßen die eiserne Disziplin, solcherart die gesamte Nacht zu verbringen, ohne auch nur einen Moment im Schlaf zu versinken. Doch das, worauf er wartete, war nicht weniger geduldig. Tief unter ihm, in einer feuchten Höhle lag es, noch regungsloser als der Mensch, der atmete und ein schlagendes Herz besaß, und beobachtete ihn mit Augen, die, obwohl blind im Licht des Tages, durch Steine und Erde hindurch selbst das Lebenslicht einer Maus erspäht hätten.

Es hätte warten können, bis der Winter den wagemutigen Menschen vertrieben hätte. Es hätte warten können, bis er alt geworden und gestorben wäre. Es hätte warten können, bis die Häuser des nahen Dorfes zu Staub zerfallen waren, so wie es schon einmal Jahrhunderte in der Erde eingesperrt gewesen war, gebannt von den Priestern, die über seiner Höhle ihre Steinkreise errichtet hatten.

Aber wie verschieden es auch von den warmen Kreaturen des Tageslichts war, so hatte es doch ein paar Eigenschaften mit den Menschen gemeinsam. Eine davon war die Neugier.

Kein Geräusch hatte die Stille der Nacht durchbrochen, bevor mit einem lauten Krachen der Holzdeckel über dem Brunne zur Seite geschleudert wurde. Der Krieger zuckte nicht eimal zusammen, er hob nur den Kopf und sah das Ding an, dass wie ein Nebelschwaden aus dem Brunnen hervorkroch. Ein länglicher Echsenschädel saß auf einem schlangenartigen Körper, der von vier kurzen, mit glasartigen Klauen versehenen Beinen bestückt war. Rote Büschel saßen links und rechts an seinem Hals, ansonsten war die gesamte Erscheinung fahl-weiß, wie ein toter, ausgebluteter Körper.

Sein Schlangenkörper mochte doppelt so lang sein wie ein Mann, und eine Aura von unglaublicher Kraft umgab seine groteske Erscheinung. Seltsam unfertig, wie eine Kreatur, die zu früh den schützenden Leib seiner Mutter oder die Schale eines Eis verlassen hatte, ähnelte es nichts so sehr wie einer Totgeburt.

Der Krieger nickte grimmig. Er hatte Beschreibungen von Kreaturen seiner Art gelesen und erinnerte sich daran, was über ihre Stärken und Schwächen überliefert war.

"Sei gegrüßt, Ungeborener", sprach er die leichenhafte Erscheinung an.

Milchig weiße Augen drehten sich in seine Richtung.

"Sei gegrüßt, Narr!", kam es zischelnd zurück. "Du hast dir keinen schönen Tot ausgesucht."

"Ich habe nicht vor, an diesem Ort zu sterben. Ich bin keine leichte Beute, wie die armen Bauern, die du verschlungen hast."

Das Zischen aus der Kehle der Kreatur mochte ein Lachen sein.

"Ich habe sie nicht verschlungen. Solch grobe Nahrung benötige ich nicht. Sie haben noch gelebt, als ich sie in meine Höhle schleppte, und auch dort sind sie nicht gleich gestorben, oh nein. Sie haben sich nur gewünscht, sie wären tot, während ich mich an ihrem Leben und an ihrer Furcht gelabt haben. Vier dürre, ängstliche Bauern haben mich mit ihrem winzigen Leben genährt, und jetzt wird ihnen ein dicker, närrischer Adliger folgen. Mal sehen ob dein Leben besser schmeckt!"

Ein Mund voller kristallener Zähne tat sich in dem leichenblassen Kopf auf, und der Wurm kroch auf den Fremden zu. Er hätte den törichten Menschen schon längst mit seinem eisigen Atem lähmem können, aber seine Neugier war noch nicht gestillt, und es wollte noch ein wenig mit dem Menschen zu spielen.

Der betrachtete interesiert, wie die Flammen seines Feuers zusammensackten, als das Wesen näher kam, und die Farbe von Verwesungslicht annahmen. Feuer war der Feind solcher Kreaturen, aber sein kleines Lagerfeuer war viel zu schwach, um diese Ausgeburt der Dunkelheit zu stoppen.

"Haben dich die Bauern geweckt, als sie den Brunnen gegraben haben?", fragte er unbewegt.

"Nur Dinge, die den großen Tot kennen, kennen auch seinen Bruder. Ich schlafe nicht. Ich habe in meiner Höhle, im Wasser des Erdinnern gewartet und die dunklen Sterne beobachtet, bis sie das Zeichen meiner Befreiung bildeten. Wenn es nicht die närrischen Bauern mit ihrem Brunnen gewesen wären, hätte mich ein Erdbeben oder ein Erdrutsch befreit. Meine Zeit ist gekommen."

Der Mensch griff nach seinem Schwert. Der Wurm erzitterte in freudiger Erregung, jetzt würde das Spiel interessant werden.

Doch der närrische Mensch legte sich die Schwertscheide nur über die Knie.

"Was denn nun?", zischelte der Wurm, "willst du dein lächerliches kleines Schwert nicht endlich ziehen? Bist du nicht hier, um mir den Kopf abzuschlagen und bei den Bauern gegen einen Sack Gold eintauschen?"

Jetzt lachte der Mensch.

"Du mißverstehst den Grund meines Hierseins, Ungeborener!", mit diesen Worten stand er endlich auf und zog sein Schwert. Der Wurm erstarrte. Der Krieger hielt die Klinge senkrecht zwischen sich und die Fratze des Wurmes.

Die Klinge war schwarz wie die Nacht und ein fahles Feuer lief an der Schneide entlang, dass sich in den toten Augen des Wurms wiederspiegelte.

"Du bist nicht die einzige Macht, der die dunklen Sterne ihre Zeit verkündet haben!", rief er. "Wirst du mir folgen?"

Der Wurm zitterte ekstatisch, die Augen auf die schwarze Klinge gerichtet.

"Ja, Herr!" zischte er begierig.

Am nächsten morgen kehrte der Fremde nicht ins Dorf zurück, und man befürchtete das schlimmste, bis der Wirt des Gasthofes bemerkte, das sowohl das Gepäck als auch das Pferd des Fremden verschwunden waren. Hatte der Fremde den Wurm gesehen und die Flucht ergriffen? Nach einer Woche der Hoffnung ergriff die Angst wieder Besitz vom Griffswald. Doch das Ungeheuer tauchte nie wieder auf. Als der Winter kam, waren die Menschen von Griffswald sicher, dass der Krieger zu seinem Wort gestanden und das Monster erschlagen hatte, sie begannen Geschichten von einem tapferen Krieger zu erzählen, der weder Gold noch Ruhm ersehnte, und den Menschen half, ohne auch nur seinen Namen zu erwähnen.