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Phantastische Geschichten

Trümmer, Staub und Asche

Um ihn herum wirbelte der Wind den allgegenwärtigen Staub, den grauenvollen Staub, der einst Mensch und Tier und Pflanze und alle Dinge des Lebens gewesen war.

Hinter ihm lag die Stadt. Eine Stadt, er wusste nicht welche. Es war zu mühsam, sich zu erinnern und es war zu schmerzhaft, sich zu erinnern, und die Städte in seiner Erinnerung wollten nicht getrennt voneinander bleiben. Vor seinem geistigen Auge sah er Big Ben hinter dem Arc de Triomphe, sah die Frauenkirche gegenüber dem Petersdom. Auch die Jahre bluteten ineinander, Pferdekutschen zwischen gläsernen Bürotürmen, Leprakranke Bettler in den U-Bahnhöfen.

Vor ihm lag der Abgrund. Ein tiefes Loch, schwärzer als der Nachthimmel, an dem schon lange keine Sterne mehr zu sehen waren, erstreckte er sich bodenlos in die Tiefe der Erde hinab. Stieg dort nicht schwefliger Rauch hinauf? Glomm von ganz unten nicht infernalische Glut hervor? Gewiß, dieser furchtbare, tiefe Schlund musste bis in die Hölle hinabreichen!

Aber nein, es gab ja keine Hölle, das hatten die Wissenschatler bewiesen, bevor sie die große Bombe gebaut hatten. (Oder war das danach gewesen?)

Es gab keine Hölle. (Aber woher war dann der Dämon gekommen?)

Es gab nur die Trümmer der Stadt, den Wind und den Staub und den Krater.

Er fragte sich, was mit ihm geschehen wäre, hätte er an diesem Ort gestanden, als die Bombe fiel, als das Licht einer Sonne erstrahlte, um Finsterniß über die Erde zu bringen. Wäre es schließlich doch sein Tod gewesen? Immerhin hatte es damals die Bombe nicht gegeben, hatte niemand gedacht, dass es so etwas geben könnte, als er den Preis bezahlte, als er mit dem Dämon gehandelt hatte. Aber er war nicht hier gewesen, als die Bombe gefallen war.

Er war geflohen, als die ersten Schatten des Krieges die Tage verdunkelt hatten, er war aus den Städten geflohen, vor den großen Bomben geflohen, weil er, so Müde er des Lebens auch geworden war, den Tod noch immer gefürchtet hatte. Nun wusste er nicht, ob er den Tod mehr fürchtete, als die Einsamkeit.

Den großen Bomben war er entkommen, fern der Städte. Dem Krieg hatte er nicht entkommen können.

Hunderte und Tausende um ihm herum waren durch die Kugeln und die kleinen Bomben gestorben, aber ihm konnten die Kugeln und die Granatsplitter nichts anhaben, so wie es schon oft gewesen war.

Hunderte und Tausende waren durch die giftigen Gase gestorben, die ihn schon in den Schützengräben der Westfront verschont hatten.

Hunderte und Tausende waren an der Strahlung der großen Bomben gestorben, aber auch die hatte ihn nicht berührt. (Wenn die Strahlung ihm nichts anhaben konnte, hätte ihn dann eine der Bomben töten können?)

Hunderte und Tausende waren verhungert, aber er spürte schon lange keinen Hunger mehr.

Die wenigen, die verblieben waren, hätten vielleicht überlebt. Es waren so wenige, dass selbst das bisschen, das die verbrannte und verwüstete Erde noch an Nahrung bot, vielleicht gereicht hatte. Aber dann kamen die Pestilenzen. Die Alten, die ihn schon lange nicht mehr bedrohten, und die neuen (erschaffen als Waffen gegen einen Feind, der schon längst besiegt war, vernichteten sie nun Freund und Feind gleichermaßen), die ihm nicht schaden konnten.

Schließlich war er als einziger übriggeblieben, hatte das letzte Grab ausgehoben (war es für einen Mann oder eine Frau gewesen?), hatte das Grab mit Erde gefüllt (war es ein Freund oder ein Feind gewesen?) und hatte mit seiner Wanderung begonnen.

Er wusste nicht, wie lange er schon durch die Ruinen und den Staub wanderte, er wusste nicht, wie lange er noch über die verbrannte und verwüstete Erde wandern würde. Eines Tages, so hatten die Wissenschaftler geweissagt, würde die Erde von ihrer Sonne verschlungen werden, dann wäre seine Wanderung wohl zu Ende. Aber die Wissenschaftler hatten auch die großen Bomben gebaut, wie weise konnten sie schon gewesen sein?

Er wandte sich von dem Krater ab, in dessen Tiefe das Höllenfeuer brannte oder auch nicht (es machte keinen Unterschied), und ging in eine Richtung davon, von der er hoffte, dass es nicht die war, aus der er gekommen war.

Er würde weiter suchen. Der Dämon hatte ihm nie gesagt, ob er der einzige war, dem er die Unsterblichkeit geschenkt hatte!